Krim: Erkundungen am Rand Europas
Die geschichtsträchtige und reizvolle Halbinsel Krim im Schwarzen Meer ist von großer geostrategischer Bedeutung. Dies führt immer wieder zu politischen Konflikten. Wie aber verläuft auf der Krim das Alltagsleben jenseits der Diskurse um Recht, Grenzen und Krieg? Wie denken Intellektuelle vor Ort über die heutige Situation? Kann Geopoesie helfen, der gegenwärtigen Krise entgegenzusteuern? Tatjana Hofmanns ethnografische Langzeitbeobachtung geht diesen Fragen nach.
Ihr poetischer Essay, illustriert mit großartigen Fotografien von Alexander Barbuch, überschreitet übliche Gattungsgrenzen und sucht nach Perspektiven fernab gängiger Deutungsmuster.
Ausschnitt aus dem Buch
Drehgenehmigung
"Falls uns die Polizei anhält, benötigen wir eine Genehmigung. Was genau dreht ihr, höre ich
und höre mich antworten: einen Dokumentarfilm, Arbeitstitel Wege der Krim. Am
Kreuzungspunkt der Kulturen. Anschreiben, Stille, Hin- und Herschreiben mit dem
Professorfreund, Hingelotstwerden zu seinem Vater, Politiker in Simfi.
Der Krimkollege insistierte, dass wir seinen Vater, I. senior, treffen. Haben wir erledigt,
Patronatpakt vor dem Parlament auf einer Bank abgeschlossen, unweit des Denkmals für die
»höflichen Männchen«. Wir rufen uns gegenseitig an, falls etwas ist, so sind wir verblieben.
Und dass wir uns am nächsten Tag mit ihm und der Ministerin treffen, uns vorstellen, damit
sie unser Vorhaben genehmigt.
Am nächsten Tag warten wir auf I. seniors Anruf, vergeblich. Gelbe Blätter, grauer Himmel.
Am Nachmittag klappt es dann doch. Eine attraktive Frau, die Kulturministerin. Wir trinken
einen Kaffee in ihrem Büro, ihr weißes Kostüm steht ihr gut. Resolut gibt sie uns
Empfehlungen, wo wir filmen sollen, Sehenswürdigkeiten wie das Schwalbennest in Jalta.
Schwungvoll notiert sie ihre Telefonnummer auf ein Blatt Papier, ihren Vor- und
Vatersnamen. Den Zettel lege ich ins Portemonnaie.
Zwischenfall im Kulturministerium: Einer dieser Momente, wo du von Personen abhängig
bist, die ihre Macht auskosten. Cyril blieb unten auf dem großen Platz in der Sonne, allein.
Was, wenn ihn jemand anspricht – er würde nichts verstehen, weiterfilmen, die Polizei wäre
schnell zur Stelle, wir stünden wieder unter Verdacht. Ich müsste schon bei ihm sein, dann
würde ich den magischen Schlüssel anwenden, die Nummer der Kulturministerin wählen. Sie
hat auch mal selbst angerufen, nannte mich Taaanetschka und wollte wissen, ob alles in
Ordnung sei.
Die flachen Treppen im Ministeriumsbau hochzurennen, das fühlte sich noch gut an, all diese
Bauten massieren meine Füße gleich. Kaum auf dem großen Korridor angelangt, begann
aber die Hysterie. Ich wurde hin und her geschickt und vergaß in der Hektik, dass ich den
Zettel mit der magischen Nummer bei mir trug. Die Beamten, denen ich letztlich zugeordnet
wurde, zwei Frauen und ein krimtatarischer Mann, musterten mich feindselig. Eine Frau
dünn, die andere füllig, sie aß gerade Torte. Die Magere echauffierte sich: »Erzählen Sie, was
Sie wollen, aber ich sage Ihnen gleich: Sie sehen wie eine Bibliothekarin aus und nicht wie
eine Filmregisseurin. Ich kaufe Ihnen das mit dem Film nicht ab. Was wollen Sie auf der
Krim? Wer braucht Ihren Film? Sagen Sie mir die Wahrheit. Sagen Sie erst einmal, was Sie für
eine Ausbildung haben.« Ich fing an, sie unterbrach mich: »Ha, Sie haben nicht einmal die
Schule bei uns abgeschlossen. Uns können Sie nicht an der Nase herumführen. Sie werden
auf die Nase fallen! Sie spionieren hier!« Sie googelte oder yandexte mich, murmelte etwas
zum Mann, auch die Tortenesserin beugte sich zu ihr, und meinte daraufhin zu mir: »Uns ist
klar, dass nicht die Universität Zürich sie hierherschickt. Die würden sich eher in die Hosen
machen, als das ›okkupierte Territorium‹ zu betreten. Mal schauen, ob wir Sie verraten
werden. Interessant, was für Sanktionen drohen Ihnen seitens der Universitätsleitung, wenn
die zufällig erfahren sollte, dass Sie hier sind?«"
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Erschienen: September 2022