Das Habilitationsprojekt untersucht das Genre der Reiseskizze in seiner poetologischen Entwicklung vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Der Akzent liegt auf der Publikationslandschaft der 1920er bis 1930er Jahre. Die Studie nimmt die Rolle des reisenden Schreibens (Fotografierens, Filmens) in den Blick, ausgehend von Sergej Tret’jakovs Bedeutung für die Entwicklung des sowjetischen Kulturjournalismus und über ihn hinaus bei Kušner, Pil’njak, Šaginjan, Inber, Richter, Šnejderov und Vertov u.a.
Im Fokus stehen Reisepraktiken und Strategien mobiler Kulturpräsentation in der feuilletonistischen und literarischen Prosa, topografische Arbeiten und Poetiken des Unterwegsseins der postrevolutionären Avantgarde komplementär zur postsowjetischen Periode (Genis, Vajl’, Lomasko, Markov). Denn als ästhetisch anpassungsfähiges und politisch brisantes Genre blüht die Reiseskizze vor allem an historischen Umbrüchen auf. Wie kaum eine andere literarische Kleinform öffnet sie sich dabei innovativem Medieneinsatz. Die Genre-, Medien- und Funktionsüberschneidungen der Reiseskizze erfordern einen immanenten wie auch kulturhistorischen Zugang, der intermediale Wechselwirkungen nebst jenen zwischen Bewegung und Dokumentation berücksichtigt.
Die Kategorisierung der Reiseskizze vor dem Hintergrund der Gattungsevolution des sozialistischen očerk in der frühen Sowjetunion und ihrer diachronen Verortung (Aufklärung, Romantik, Natürliche Schule, Realismus) zielt auf eine Bestimmung von Autorschaftskonzepten, Schreib- und Dokumentarformaten an der Grenze von Literatur, kulturvermittelndem und journalistischem Text, aber auch Bild. Dies lässt Rückschlüsse auf mediale und ideologische Implikationen zu, ebenso auf die sich zum Teil überlappenden Funktionen der Autor*innen als Journalist*innen, Agitierende, Abenteurer*innen und Sozialarbeiter*innen. Insgesamt gilt es, die Bandbreite der Ästhetik eines hybriden und weiterhin aktuellen Genres zwischen Szientismus und Popularisierung, Empirie und Kunst, strategischer Erschließung und politischem Engagement bei der Konstruktion der Sowjetunion und nach ihrem Zerfall näher zu bestimmen.
Das Projekt unternimmt einen Innenblick in Lebenswelten von Kulturschaffenden auf der Halbinsel im Schwarzen Meer. Diese ist in der älteren, aber auch in der jüngeren Geschichtemehrfachvon Konflikten heimgesucht worden. Wie verläuft das Alltagsleben auf der Krim seit 2014jenseits der Diskurse um internationales Recht, Grenzen und Krieg? Wie reflektieren Intellektuelle vor Ort die angespannte Situationzwischen Ukraine und Russland? In welchem Verhältnis befindet sich die Kunst, die auf der Krim entsteht, zum künstlerischen Reservoir des sogenannten ,Krim-Textes’? Was kann sie leisten, um der politischen Krise zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine entgegenzusteuern? Das Projekt beleuchtet diese Fragen anhand einer filmischen Langzeitbeobachtung, die visuelle Anthropologie und literaturwissenschaftlichen Intertext kultursemiotisch verbindet. Im Rahmen einer iterativen Feldforschung entstehen Video-Interviews mit fünf zentralen Protagonist*innen und sieben Expert*innen. Langfristig werden die Aufzeichnungen mit übersetzten Untertiteln der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Sie bilden die Grundlage des Dokumentarfilms, der am Ende des Projekts geschnitten wird, begleitet von einem Essay. Letzterer kontextualisiert die Porträts der Protagonist*innen mit den zentralen Problemen, die sie artikulieren, im kulturhistorischen Komplex zwischen Geopolitik und poetischer Reflektion. Darüber hinaus diskutiert er den Feldforschungsprozess sowie die Arbeit am Film. Beide Ergebnisse, Film und Essay, leisten einen Beitrag zur Analyse der symbolischen Struktur postsozialistischer Transformation. Sie setzen einen Dialog mit Westeuropa fort, den geopoetische Aktivist*innen zu Beginn der 1990er Jahre eröffnet haben. Damit verfolgt das Projekt ein friedenssicherndes Interesse.
Workshop mit Filmpremiere
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Krim: Erkundungen am Rand Europas
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Dr. Tatjana Hofmann
Wissenschaftlerin, Autorin und ÜbersetzerinE-Mail: tatjana.hofmann@unisg.ch
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